"Vater... wo bist du? Warum versagst du mir deinen Beistand?!"
Angestrengt bahnt sich mein Blick einen Weg durch die schwere Wolkendecke in der verzweifelten Hoffnung auf Erleuchtung. Ich habe Angst.
Immer wieder, mit jedem Peitschenschlag, hatte ich mein Wort im stillen Gebet an den Vater gerichtet, mich vergeblich bemüht, die Antwort dort droben zu finden, wenn das unbarmherzige Leder meinen Rücken zerschnitt. Doch der schwere Balken in meinem Nacken hatte den Blick gen Boden gezwungen, damit ich mich in Demut vor meinen Peinigern beuge. Nun liege ich hier, das blutige Fleisch auf das raue Holz des Kreuzes gebunden, der Schmerz beraubt mich meiner Sinne, meines Atems.
'Was habe ich getan?
Sage mir, Vater! War es falsch, diesen Weg zu wählen, war es falsch, sich für den Glauben zu opfern? Sprich mit mir,Vater... wo ist deine Antwort? Warum hüllst du dich in Schweigen?'
Der Himmel bleibt wolkenverhangen und stumm, hinter einem Schleier von Tränen verborgen. Ebenso verschwimmt das Stimmengewirr der römischen Soldaten hinter dem Tosen in meinem Ohr. Undeutlich huschen ihre Schemen, hier und dort, hantieren herum, binden meine Arme an den leblosen Baum, auf dem ich liege. Erstarrt in stiller Hoffnung und doch verzweifelt, richte ich den Blick zurück in die Wolken. Wie kann er tatenlos zusehen, was sie mir antun? Mir, seinem einzigen Sohn?!
Schwer schlucke ich die aufkeimende Wut hinunter, sie schnürt mir die Kehle zusammen.
Ein Stich im Handgelenk holt mich in das Geschehen zurück. Erschrocken huscht mein Auge nun zu dem Soldaten, dessen Linke den Nagel hält, dessen Rechte den Hammer schwingt.
Stumm flehe ich ihn an, die grausame Arbeit zu verweigern, und weiß doch, dass er mich nicht erhören wird. Niemand wird mich erhören, nicht mein Vater und nicht meine Henker. Er sieht mich nicht an, sein Augenmerk haftet konzentriert auf dem Eisen, dann folgt der Schlag, welcher dieses gnadenlos in mein Fleisch hinein treibt, der meiner trockenen Kehle ein unmenschliches Geschrei entreißt, fremdartig und unwirklich, wie nicht von dieser Welt.
Der Soldat hält kurz in seiner Arbeit inne, sieht mich an, seine Miene zeichnet kaltes Bedauern... dann schlägt er wieder zu, treibt den Nagel mit kräftigen Hieben durch das Handgelenk. Schlag um Schlag schickt der Hammer die unvorstellbarsten Schmerzen durch meinen Leib.
Meine Schreie werden schwächer, die Kraft verlässt mich mit jedem dieser barbarischen Stiche, ich erwarte bangen Mutes die gnädige Ohnmacht.
Doch diese ist mir nicht vergönnt, denn nun reibt mir ein zweiter Soldat einen nassen Schwamm durch das Gesicht, damit ich bei Bewusstsein bleibe.
'Was habe ich euch angetan, dass ihr mich so leiden lasst?', will ich rufen, schon jagt ein neuer Schmerz durch meinen Körper, der mir die Sinne raubt, der mir den Atem nimmt, der meiner Brust dieses furchtbare Geschrei entreißt, denn auch der zweite Arm soll befestigt werden.
Wieder trifft mein tränengefüllter Blick flehend den des Soldaten zu meiner Rechten, schnell weicht er ihm aus, beendet sein Werk mit einem gezielten letzten Schlag. Mir schwinden die Sinne, ein dichter, schwarzer Schleier weht vor meinem Auge, doch meine Peiniger zeigen sich ohne Gnade und zwingen mich mit dem kalten Schwamm in mein schmerzhaftes Dasein zurück.
Dem trockenen Mund entweicht nun lediglich noch ein leises Wimmern, alle Kraft scheint mir genommen, durch einen blutigen Schleier sehe ich in die Wolken, in banger Hoffnung erflehe ich abermals den Beistand des Vaters, beklage den Schmerz, erbitte ein Wunder. Und doch ist mir gewiss, dass dies Gebet vergebens sei.
Ich bin hier, um zu bezahlen!
Zu dieser Stunde, an diesem düsteren Tag ohne Hoffnung, werde ich die Schulden der Menschen begleichen, werde vor Gott, meinem Vater, für ihre Sünden büßen, sie bezahlen, mit meinem Leben... und mit meinem Leiden, mit meinem Schmerz.
Das ist meine Berufung, mein mir vorgeschriebener Weg. Mein Herz weiß es, doch meinen Geist plagen Zweifel. Mein Vater hat sein Antlitz von mir abgewandt. Zu groß ist die Schuld, zu schwer die Bürde all der Sünden, welche ich mir aufgeladen, er kann mir nicht mehr helfen.
Unsanft werde ich aus meinem Stoßgebet gerissen, die Last meines Leibes reißt an den frischen Wunden und die Pein raubt mir den Odem, als das Kreuz langsam aufgerichtet wird. Fahrig ertastet mein Fuß ein kleines Brett, zitternd stütze ich mich darauf ab. Eine Leiter wird neben mir aufgerichtet, und einer der Soldaten ergreift den anderen Fuß, um ihn darüber zu kreuzen. Nun folgt das letzte, qualvolle Martyrium, denn ein dritter Nagel schlägt die Füße an das Brett.
Wieder will mir das Bewusstsein schwinden, ein heiseres Stöhnen verlässt meine rauhe Kehle, die Leiter wird entfernt, dann bin ich mit meinem Schmerz allein...
Hoch über dem Tumult ragt das Kreuz in den Himmel.
So nah an Gott und doch so fern seiner gütigen Hand.
Langsam dringt Stimmengewirr durch das aufgeregt rauschende Pochen in meinem Haupt. Zu meinen blutenden Füßen haben sich die Mensch versammelt. Schaulustige, neugierige Geister, die sich an meinem Leid laben, denen es die Zeit vertreibt, sie von ihrem tristen Alltag ablenkt... doch wo sind meine Jünger? Meine Getreuen? Diejenigen Menschen, die meinem Worte folgten, meinen Lehren Glauben schenkten?
Wo sind die Menschen, die mir eins zujubelten, mich ihren Heiland hießen, mir Hosianna zuriefen. Wo seid ihr, meine Kinder? Ist euer Glaube so schwach, dass er nicht ausreicht, mein Opfer zu würdigen?
Zweifel und Bitterniss nagen an meiner Liebe, die ich für die Untreuen empfinden sollte. Im Angesicht meiner Schwäche verlässt mich der Mut.
Zitternd stemme ich mich nach oben, im sinnlosen Bemühen, meine Hände zu entlasten, nur noch dumpf pocht der Schmerz in den Gliedmaßen, denn nun beherrscht die Angst mein Empfinden, die unsägliche Furcht vor dem nahen Tod. Meine letzten Stunden auf dieser Erde haben begonnen, und diese Erkenntnis pflanzt sich bitter in mein Herz, belegt es mit einer lähmenden Todesangst, denn mein Vater hat sich von mir abgewandt, zeigt sich schweigsam und ungnädig, und auch die Menschen, welche an mich glaubten, scheinen ihren Glauben verloren zu haben, strafen mich mit Ignoranz...
'Ist mein Opfer denn vergebens? Antworte, Herr!
Ich will nicht sterben! Ich bin noch viel zu jung!
Ich muss noch große Taten vollbringen....VATER!!!??!
Schwer habe ich an dieser Gewissheit zu schlucken, blinzelnd drücke ich die Tränen aus meinen Augen. Der Wind kühlt den Schweiß auf meinem nackten Leib. Unstet wandert mein flackernder Blick über den Gipfel des Berges, der Zeuge meines Ablebens sein wird.
Ich teile mein Schicksal mit zwei Verbrechern, welche man zu meinen Seiten hingerichtet hat. Auch sie kämpfen tapfer gegen den unvermeidlichen, den qualvollen Tod.
Unter den Menschen, ganz nah beim Kreuz, finde ich bekannte Gesichter.
Dort ist Maria Magdalena, die Frau, welche einen Platz in meinem Herzen bewohnt. Ihr Anblick lässt mich vor Scham erschaudern. Ich breche ihr Herz und finde keine Entschuldigung. Dennoch ist ihr Blick sanft und voller Güte. Sie wird mir verzeihen, was ich tat, denn ihre Seele ist rein und ohne Selbstsucht. Ich hätte von ihr lernen sollen, da ich die Zeit noch hatte.
Nun aber erfüllt mich ihre selbstlose Liebe mit tiefer Trauer, und ich kann ihr nicht ins Antlitz sehen, kann die Schuld nicht mehr ertragen, die ich empfinde.
An ihrer Seite kniet Maria, meine liebe Mutter.
Das Bildnis der schluchzenden Frau zerreisst mir das Herz. Auch ihr gegenüber empfinde ich Scham, denn der Schmerz, den ich ihr zufüge, ist zu gewaltig. Solche Qual darf ein Sohn seiner Mutter niemals zufügen. Ich will sie trösten, sie umarmen, doch mir sind die Hände gebunden...
Auch einer meiner Jünger ist anwesend. Johannes, mein Bruder im Herzen, er gibt Maria in ihrer schwersten Stunde Halt, hat den Arm um sie gelegt, und mein Herz füllt sich mit unendlicher Liebe, sie scheint so grenzenlos, dass ich für einige Zeit den Schmerz vergesse. Selbst meine Worte kommen leicht von meinen Lippen.
"Mutter, siehe, dein Sohn!" sage ich zu Maria, wende dann den Blick zu Johannes und fahre fort: "Johannes, mein Freund, siehe, deine Mutter!", und eine ungeheure Erleichterung lässt einen Teil meiner Bürde leichter werden, denn von nun an wird er für sie sorgen, wird an meiner Statt ihr Sohn sein.
Weiter schweift mein Blick über die Menschen vor dem Kreuz. Die Soldaten, welche pflichtbewusst die Menge zurück halten, den Freunden verwehren, mir zur Hilfe zu eilen. Meine Henker, meine Todesbringer. Die armen Sünder erfüllen lediglich ihre traurige Pflicht, vollstrecken sie doch nur Pilatus' Urteil. Selbst für diesen meinen Richter empfinde ich Mitleid und Liebe. Er ist, wie ich, ein Kind Gottes, ein Opfer seiner Sünden, nicht mehr und nicht weniger.
"Bitte vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Schwach stößt mein verendender Odem die Botschaft gen Himmel, dann schwinden mir die Sinne, denn mein Gewicht droht mich zu ersticken. Kaum noch sind die zitternden Knie stark genug, den schwachen Leib wieder und immer wieder nach oben zu stemmen, indes vergeht Minute um Minute.
Minuten dehnen sich zu Stunden. Immer wieder versinke ich in Hoffen und Bangen, kämpfe um mein Leben, das doch bald zu Ende ist, ertrage den unerträglichen Schmerz.
Langsam neigt sich der Tag dem Ende, die Schaulustigen sind gegangen. Nur meine Mutter, Maria und Johannes stehen an meiner Seite bis in den Tod.
Die Soldaten jenseits meiner genagelten Füße würfeln um mein Gewand, welches sie mir vor der Geißelung von den Schultern gerissen haben.
Dichte Wolken brauen sich zusammen, in der Ferne dröhnt Donnergrollen... selbst der Himmel hat sich gegen mich verschworen.
'Warum wendest du dich ab von mir, Vater? Habe ich dich enttäuscht? Bin ich nicht wert, dein Sohn zu sein? Der nahende Tod, die Einsamkeit lässt mich zweifeln.
Immer hatte ich Deine Liebe in mir gespürt, sie war mir Antrieb und Wegweiser. Selbst noch, als mich der Freund den Häschern auslieferte, um meinen Glauben zu verteidigen, war ich gewiss, den rechten Weg zu gehen. Ich vertraute dir, Vater! Ich hegte die Hoffnung, mit der Stärke deiner Liebe jede Qual zu bestehen.
Nun aber hat sich an ihrer Statt eine eisige Klaue um mein Herz gelegt, um es seiner Kraft zu berauben. Aller Lebensmut scheint heraus geflossen, eine trostlose Leere hinterlassend, nur die nackte Angst vor dem bevorstehenden Tod hält mich krampfhaft im Diesseits.
Wenn das deine Strafe ist, Vater, dann ist sie grausamer denn der Schmerz, welchen ich für dich erduldet habe!'
Verzweifelt nach Luft ringend, die Augen mit Tränen gefüllt starre ich in die anbrechenden Dämmerung
"Vater! Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Ein letzter verzweifelter Aufschrei findet, begleitet durch das Grollen des Donners, seinen Weg in die schweren Wolken...
Dann erschöpft sich meine Kraft endgültig und mein Haupt sinkt schwer auf die keuchende, schweißbedeckte Brust, die letzten Minuten brechen an.
Ein Soldat, welcher die Anweisung hat, meinen Todeskampf zu verlängern, hält mir mit seiner Lanze einen mit Wasser und Essig getränkten Schwamm an den Mund, doch ich bin bereits zu schwach, um davon zu trinken.
Es geht zuende. Endlich!
Dort oben, inmitten des schwarzen Himmelsgewölbes, reißt die Wolkendecke auf und lässt ein Licht auf mich hernieder scheinen. Es ist ein warmes, gütiges Licht. Es ist das Licht der göttlichen Liebe. Mein Vater breitet wartend seine Arme aus.
Nun hat meine Qual ein Ende, und Gott, in seiner unendlichen Güte, nimmt mich auf in sein Himmelreich.
"Vater...in deine Hände übergebe ich meinen Geist", flüstere ich schwach, so ich doch weiß, dass er mir nun zuhört, dass er mir vergeben wird...
... dass er die Sünden der Menschen vergeben wird.
Ich habe die Schuld bezahlt.
"Es ist vollbracht"
Angestrengt bahnt sich mein Blick einen Weg durch die schwere Wolkendecke in der verzweifelten Hoffnung auf Erleuchtung. Ich habe Angst.
Immer wieder, mit jedem Peitschenschlag, hatte ich mein Wort im stillen Gebet an den Vater gerichtet, mich vergeblich bemüht, die Antwort dort droben zu finden, wenn das unbarmherzige Leder meinen Rücken zerschnitt. Doch der schwere Balken in meinem Nacken hatte den Blick gen Boden gezwungen, damit ich mich in Demut vor meinen Peinigern beuge. Nun liege ich hier, das blutige Fleisch auf das raue Holz des Kreuzes gebunden, der Schmerz beraubt mich meiner Sinne, meines Atems.
'Was habe ich getan?
Sage mir, Vater! War es falsch, diesen Weg zu wählen, war es falsch, sich für den Glauben zu opfern? Sprich mit mir,Vater... wo ist deine Antwort? Warum hüllst du dich in Schweigen?'
Der Himmel bleibt wolkenverhangen und stumm, hinter einem Schleier von Tränen verborgen. Ebenso verschwimmt das Stimmengewirr der römischen Soldaten hinter dem Tosen in meinem Ohr. Undeutlich huschen ihre Schemen, hier und dort, hantieren herum, binden meine Arme an den leblosen Baum, auf dem ich liege. Erstarrt in stiller Hoffnung und doch verzweifelt, richte ich den Blick zurück in die Wolken. Wie kann er tatenlos zusehen, was sie mir antun? Mir, seinem einzigen Sohn?!
Schwer schlucke ich die aufkeimende Wut hinunter, sie schnürt mir die Kehle zusammen.
Ein Stich im Handgelenk holt mich in das Geschehen zurück. Erschrocken huscht mein Auge nun zu dem Soldaten, dessen Linke den Nagel hält, dessen Rechte den Hammer schwingt.
Stumm flehe ich ihn an, die grausame Arbeit zu verweigern, und weiß doch, dass er mich nicht erhören wird. Niemand wird mich erhören, nicht mein Vater und nicht meine Henker. Er sieht mich nicht an, sein Augenmerk haftet konzentriert auf dem Eisen, dann folgt der Schlag, welcher dieses gnadenlos in mein Fleisch hinein treibt, der meiner trockenen Kehle ein unmenschliches Geschrei entreißt, fremdartig und unwirklich, wie nicht von dieser Welt.
Der Soldat hält kurz in seiner Arbeit inne, sieht mich an, seine Miene zeichnet kaltes Bedauern... dann schlägt er wieder zu, treibt den Nagel mit kräftigen Hieben durch das Handgelenk. Schlag um Schlag schickt der Hammer die unvorstellbarsten Schmerzen durch meinen Leib.
Meine Schreie werden schwächer, die Kraft verlässt mich mit jedem dieser barbarischen Stiche, ich erwarte bangen Mutes die gnädige Ohnmacht.
Doch diese ist mir nicht vergönnt, denn nun reibt mir ein zweiter Soldat einen nassen Schwamm durch das Gesicht, damit ich bei Bewusstsein bleibe.
'Was habe ich euch angetan, dass ihr mich so leiden lasst?', will ich rufen, schon jagt ein neuer Schmerz durch meinen Körper, der mir die Sinne raubt, der mir den Atem nimmt, der meiner Brust dieses furchtbare Geschrei entreißt, denn auch der zweite Arm soll befestigt werden.
Wieder trifft mein tränengefüllter Blick flehend den des Soldaten zu meiner Rechten, schnell weicht er ihm aus, beendet sein Werk mit einem gezielten letzten Schlag. Mir schwinden die Sinne, ein dichter, schwarzer Schleier weht vor meinem Auge, doch meine Peiniger zeigen sich ohne Gnade und zwingen mich mit dem kalten Schwamm in mein schmerzhaftes Dasein zurück.
Dem trockenen Mund entweicht nun lediglich noch ein leises Wimmern, alle Kraft scheint mir genommen, durch einen blutigen Schleier sehe ich in die Wolken, in banger Hoffnung erflehe ich abermals den Beistand des Vaters, beklage den Schmerz, erbitte ein Wunder. Und doch ist mir gewiss, dass dies Gebet vergebens sei.
Ich bin hier, um zu bezahlen!
Zu dieser Stunde, an diesem düsteren Tag ohne Hoffnung, werde ich die Schulden der Menschen begleichen, werde vor Gott, meinem Vater, für ihre Sünden büßen, sie bezahlen, mit meinem Leben... und mit meinem Leiden, mit meinem Schmerz.
Das ist meine Berufung, mein mir vorgeschriebener Weg. Mein Herz weiß es, doch meinen Geist plagen Zweifel. Mein Vater hat sein Antlitz von mir abgewandt. Zu groß ist die Schuld, zu schwer die Bürde all der Sünden, welche ich mir aufgeladen, er kann mir nicht mehr helfen.
Unsanft werde ich aus meinem Stoßgebet gerissen, die Last meines Leibes reißt an den frischen Wunden und die Pein raubt mir den Odem, als das Kreuz langsam aufgerichtet wird. Fahrig ertastet mein Fuß ein kleines Brett, zitternd stütze ich mich darauf ab. Eine Leiter wird neben mir aufgerichtet, und einer der Soldaten ergreift den anderen Fuß, um ihn darüber zu kreuzen. Nun folgt das letzte, qualvolle Martyrium, denn ein dritter Nagel schlägt die Füße an das Brett.
Wieder will mir das Bewusstsein schwinden, ein heiseres Stöhnen verlässt meine rauhe Kehle, die Leiter wird entfernt, dann bin ich mit meinem Schmerz allein...
Hoch über dem Tumult ragt das Kreuz in den Himmel.
So nah an Gott und doch so fern seiner gütigen Hand.
Langsam dringt Stimmengewirr durch das aufgeregt rauschende Pochen in meinem Haupt. Zu meinen blutenden Füßen haben sich die Mensch versammelt. Schaulustige, neugierige Geister, die sich an meinem Leid laben, denen es die Zeit vertreibt, sie von ihrem tristen Alltag ablenkt... doch wo sind meine Jünger? Meine Getreuen? Diejenigen Menschen, die meinem Worte folgten, meinen Lehren Glauben schenkten?
Wo sind die Menschen, die mir eins zujubelten, mich ihren Heiland hießen, mir Hosianna zuriefen. Wo seid ihr, meine Kinder? Ist euer Glaube so schwach, dass er nicht ausreicht, mein Opfer zu würdigen?
Zweifel und Bitterniss nagen an meiner Liebe, die ich für die Untreuen empfinden sollte. Im Angesicht meiner Schwäche verlässt mich der Mut.
Zitternd stemme ich mich nach oben, im sinnlosen Bemühen, meine Hände zu entlasten, nur noch dumpf pocht der Schmerz in den Gliedmaßen, denn nun beherrscht die Angst mein Empfinden, die unsägliche Furcht vor dem nahen Tod. Meine letzten Stunden auf dieser Erde haben begonnen, und diese Erkenntnis pflanzt sich bitter in mein Herz, belegt es mit einer lähmenden Todesangst, denn mein Vater hat sich von mir abgewandt, zeigt sich schweigsam und ungnädig, und auch die Menschen, welche an mich glaubten, scheinen ihren Glauben verloren zu haben, strafen mich mit Ignoranz...
'Ist mein Opfer denn vergebens? Antworte, Herr!
Ich will nicht sterben! Ich bin noch viel zu jung!
Ich muss noch große Taten vollbringen....VATER!!!??!
Schwer habe ich an dieser Gewissheit zu schlucken, blinzelnd drücke ich die Tränen aus meinen Augen. Der Wind kühlt den Schweiß auf meinem nackten Leib. Unstet wandert mein flackernder Blick über den Gipfel des Berges, der Zeuge meines Ablebens sein wird.
Ich teile mein Schicksal mit zwei Verbrechern, welche man zu meinen Seiten hingerichtet hat. Auch sie kämpfen tapfer gegen den unvermeidlichen, den qualvollen Tod.
Unter den Menschen, ganz nah beim Kreuz, finde ich bekannte Gesichter.
Dort ist Maria Magdalena, die Frau, welche einen Platz in meinem Herzen bewohnt. Ihr Anblick lässt mich vor Scham erschaudern. Ich breche ihr Herz und finde keine Entschuldigung. Dennoch ist ihr Blick sanft und voller Güte. Sie wird mir verzeihen, was ich tat, denn ihre Seele ist rein und ohne Selbstsucht. Ich hätte von ihr lernen sollen, da ich die Zeit noch hatte.
Nun aber erfüllt mich ihre selbstlose Liebe mit tiefer Trauer, und ich kann ihr nicht ins Antlitz sehen, kann die Schuld nicht mehr ertragen, die ich empfinde.
An ihrer Seite kniet Maria, meine liebe Mutter.
Das Bildnis der schluchzenden Frau zerreisst mir das Herz. Auch ihr gegenüber empfinde ich Scham, denn der Schmerz, den ich ihr zufüge, ist zu gewaltig. Solche Qual darf ein Sohn seiner Mutter niemals zufügen. Ich will sie trösten, sie umarmen, doch mir sind die Hände gebunden...
Auch einer meiner Jünger ist anwesend. Johannes, mein Bruder im Herzen, er gibt Maria in ihrer schwersten Stunde Halt, hat den Arm um sie gelegt, und mein Herz füllt sich mit unendlicher Liebe, sie scheint so grenzenlos, dass ich für einige Zeit den Schmerz vergesse. Selbst meine Worte kommen leicht von meinen Lippen.
"Mutter, siehe, dein Sohn!" sage ich zu Maria, wende dann den Blick zu Johannes und fahre fort: "Johannes, mein Freund, siehe, deine Mutter!", und eine ungeheure Erleichterung lässt einen Teil meiner Bürde leichter werden, denn von nun an wird er für sie sorgen, wird an meiner Statt ihr Sohn sein.
Weiter schweift mein Blick über die Menschen vor dem Kreuz. Die Soldaten, welche pflichtbewusst die Menge zurück halten, den Freunden verwehren, mir zur Hilfe zu eilen. Meine Henker, meine Todesbringer. Die armen Sünder erfüllen lediglich ihre traurige Pflicht, vollstrecken sie doch nur Pilatus' Urteil. Selbst für diesen meinen Richter empfinde ich Mitleid und Liebe. Er ist, wie ich, ein Kind Gottes, ein Opfer seiner Sünden, nicht mehr und nicht weniger.
"Bitte vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Schwach stößt mein verendender Odem die Botschaft gen Himmel, dann schwinden mir die Sinne, denn mein Gewicht droht mich zu ersticken. Kaum noch sind die zitternden Knie stark genug, den schwachen Leib wieder und immer wieder nach oben zu stemmen, indes vergeht Minute um Minute.
Minuten dehnen sich zu Stunden. Immer wieder versinke ich in Hoffen und Bangen, kämpfe um mein Leben, das doch bald zu Ende ist, ertrage den unerträglichen Schmerz.
Langsam neigt sich der Tag dem Ende, die Schaulustigen sind gegangen. Nur meine Mutter, Maria und Johannes stehen an meiner Seite bis in den Tod.
Die Soldaten jenseits meiner genagelten Füße würfeln um mein Gewand, welches sie mir vor der Geißelung von den Schultern gerissen haben.
Dichte Wolken brauen sich zusammen, in der Ferne dröhnt Donnergrollen... selbst der Himmel hat sich gegen mich verschworen.
'Warum wendest du dich ab von mir, Vater? Habe ich dich enttäuscht? Bin ich nicht wert, dein Sohn zu sein? Der nahende Tod, die Einsamkeit lässt mich zweifeln.
Immer hatte ich Deine Liebe in mir gespürt, sie war mir Antrieb und Wegweiser. Selbst noch, als mich der Freund den Häschern auslieferte, um meinen Glauben zu verteidigen, war ich gewiss, den rechten Weg zu gehen. Ich vertraute dir, Vater! Ich hegte die Hoffnung, mit der Stärke deiner Liebe jede Qual zu bestehen.
Nun aber hat sich an ihrer Statt eine eisige Klaue um mein Herz gelegt, um es seiner Kraft zu berauben. Aller Lebensmut scheint heraus geflossen, eine trostlose Leere hinterlassend, nur die nackte Angst vor dem bevorstehenden Tod hält mich krampfhaft im Diesseits.
Wenn das deine Strafe ist, Vater, dann ist sie grausamer denn der Schmerz, welchen ich für dich erduldet habe!'
Verzweifelt nach Luft ringend, die Augen mit Tränen gefüllt starre ich in die anbrechenden Dämmerung
"Vater! Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Ein letzter verzweifelter Aufschrei findet, begleitet durch das Grollen des Donners, seinen Weg in die schweren Wolken...
Dann erschöpft sich meine Kraft endgültig und mein Haupt sinkt schwer auf die keuchende, schweißbedeckte Brust, die letzten Minuten brechen an.
Ein Soldat, welcher die Anweisung hat, meinen Todeskampf zu verlängern, hält mir mit seiner Lanze einen mit Wasser und Essig getränkten Schwamm an den Mund, doch ich bin bereits zu schwach, um davon zu trinken.
Es geht zuende. Endlich!
Dort oben, inmitten des schwarzen Himmelsgewölbes, reißt die Wolkendecke auf und lässt ein Licht auf mich hernieder scheinen. Es ist ein warmes, gütiges Licht. Es ist das Licht der göttlichen Liebe. Mein Vater breitet wartend seine Arme aus.
Nun hat meine Qual ein Ende, und Gott, in seiner unendlichen Güte, nimmt mich auf in sein Himmelreich.
"Vater...in deine Hände übergebe ich meinen Geist", flüstere ich schwach, so ich doch weiß, dass er mir nun zuhört, dass er mir vergeben wird...
... dass er die Sünden der Menschen vergeben wird.
Ich habe die Schuld bezahlt.
"Es ist vollbracht"